Ein Plädoyer fürs Aufgeben – wann es sich lohnt, NICHT durchzuhalten!

In unserer Leistungsgesellschaft kommen wir uns schnell wie Versager vor, wenn wir einmal gesteckte Ziele nicht erreichen oder diesen gefühlt immer hinterher hecheln. Wir sollten uns aber erlauben, kritisch zu hinterfragen, ob unsere Ziele noch zu uns passen, bevor wir viel Energie reinstecken, um diese zu erreichen und darüber vergessen, was uns wirklich glücklich und zufrieden macht.

Jeder von uns kennt die Situation: Wir plagen uns seit Jahr und Tag und jagen einem Ziel (oder sogar einem Traum) hinterher. Vielleicht der Karriere im Management unseres Unternehmens, der Beziehung mit dem Traumpartner, der eigenen Immobilie, fünf Kilo weniger auf die Waage zu bringen oder die 10 km beim nächsten Stadtlauf unter einer Stunde zu schaffen.

Wir wissen im tiefsten Inneren bereits, dass wir dieses Ziel kaum mehr erreichen werden – oder wenn, dann nur unter Aufbietung schier übermenschlicher Kräfte oder mit viel Glück.

Entweder zerplatzt unser Traum irgendwann direkt vor unseren Augen oder die äußeren Umstände zwingen uns schließlich aufzugeben:

Du passt gar nicht in das Management Deines Unternehmens und die Vorgesetzten dort sind froh, dass ihnen jemand die Arbeit macht, aber denken nicht im Traum daran, Dich in ihre Sphären zu befördern. Dein vermeintlicher Traumpartner trennt sich von Dir, weil er jemand Anderes kennen gelernt hat und sagt: „Bei uns lag doch schon lange was im Argen, das musst Du doch auch gespürt haben“. Die Immobilienpreise in Deiner Stadt sind explodiert und Du bist nur noch in der Lage, Dir eine Immobilie zu leisten, wenn Du arbeitest, bis Du 85 Jahre alt wirst. Trotz wochenlangem Vertilgen von gequollenen Chiasamen will die Waage einfach nicht weniger anzeigen. Beim Training kurz vor dem Stadtlauf bist Du weit hinter Deiner Zielmarke, willst das aber nicht wahrhaben, übertreibst es und knickst um.

Und dann ärgern wir uns, dass wir dies nicht schon früher aufgegeben haben und so viel Energie, Zeit und Geld in diesen Traum gesteckt haben, anstatt diese für Dinge zu opfern, die uns wirklich Spaß machen und erfüllen.

Aber warum halten wir dann so lange an diesen Träumen fest? Warum fällt es uns so schwer, uns von diesen abzuwenden und uns auf schöne Dinge zu konzentrieren, die direkt vor unserer Nase liegen?

Auf der einen Seiten bieten diese Träume eine Möglichkeit, uns mit ihnen zu identifizieren – und auch von anderen so wahrgenommen zu werden: „Ich war doch immer der Karrieretyp, warum wünsche ich mir nun auf dem Weg zur Arbeit, einen kleinen Unfall zu haben, damit ich mich krank melden kann?“ oder „Ich wollte immer nur eine Familie haben, warum bin ich so wütend auf die Frau vor mir in ihrem toll sitzenden Business Outfit und dem Latte in der Hand?“. Schlimmer noch in Beziehungen: „ Wir waren doch das perfekte Paar in unserem Freundeskreis– warum wünsche ich mir nichts sehnlicher, als morgens alleine aufzuwachen“?

Manchmal muss man aus der Rolle fallen, um nicht in die Falle zu rollen – und ganz ehrlich mit sich ins Gericht gehen: Will ich wirklich noch mein Ziel erreichen? Ist das überhaupt noch MEIN Ziel (vielleicht auch: war es je MEIN Ziel?)? Oder wünsche ich mir insgeheim etwas Anderes, will mir das aber nicht eingestehen? Mag ich das, was ich tun muss, um meinem Ziel ein Stück näher zu kommen? Geht es mir gut dabei? – Und: Wäre es wirklich so dramatisch, von Deinem Umfeld nicht mehr als die Karrierefrau, die Sportliche, die perfekte Mutter etc. wahrgenommen zu werden?

Nun wirst Du sagen: „Aber ich habe doch schon so viel Zeit, Energie oder Geld da reingesteckt, ich kann doch jetzt nicht einfach aufgeben.“ oder der Klassiker in Beziehungen: “Ich bin ja auch nicht die Einfachste, immerhin hat er es schon so lange mit mir ausgehalten“ oder „Wir haben schon so viel miteinander durchgestanden – da kann ich ihn doch jetzt nicht verlassen.“

In der Wirtschaft nennen Experten dieses Phänomen „Point of no return“ – den Zwang, ab einem bestimmten Punkt ein einmal begonnenes Projekt fortzuführen, unabhängig davon, wie viele Ressourcen dies noch verschlingen mag und – viel wichtiger – wie die tatsächlichen Erfolgsaussichten sind. Einzig das Letztere sollte bei genauerer Betrachtung ausschlaggebend für die Entscheidung sein, ob das Projekt weiter verfolgt wird, um nicht in die sogenannte „Sunk Cost Fallacy“ (zu deutsch in etwa: „Versenkte Kosten-Falle“) zu tappen .

Vereinfacht ausgedrückt: Der Aktienkurs eines Unternehmens wird nicht steigen, weil Du in diese Aktie investiert hast und diese mittlerweile weit unter Deinem Einstandspreis vor sich hin dümpelt. Der Kurs wird nur steigen, weil die Erfolgsaussichten für das Unternehmen positiv sind.

Auch wenn man sicher nicht jede Theorie aus der Wirtschaft ohne Weiteres auf sein Privatleben übertragen sollte, kann man sich dennoch Folgendes überlegen: Der steigende Aktienkurs könnte durch positive Gefühle, Glück oder Zufriedenheit ersetzt werden:

Wenn ich mein Ziel weiterverfolge, wie wahrscheinlich ist es, dass mich dieses glücklich und/oder zufrieden macht, wenn ich es erreiche? Wie geht es mir dabei auf dem Weg dahin? Bleiben dabei Dinge auf der Strecke, die mir wichtig sind?

Auf dieBeispiele vom Anfang bezogen: Was bringt es Dir tatsächlich, an dem Meeting um 18 Uhr teilzunehmen und nicht die Zeit zu nutzen, , um Dir ein Unternehmen zu suchen, wo Du echte Aufstiegschancen hast oder um den Sprung in die Selbstständigkeit vorzubereiten? Macht es Sinn, weiterhin eine Beziehung mit einem Partner aufrechtzuerhalten, mit welchem Du doch nicht siehst, dass Du ehrlich glücklich wirst? Willst Du wirklich jeden Cent zweimal umzudrehen und gezwungen sein, weit über das Regeleintrittsrentenalter hinaus zu arbeiten, um Dir die ersehnte Immobilie leisten zu können? Und was bringt es Dir, mit knurrendem Magen die leckersten Köstlichkeiten abzulehnen, schlecht gelaunt Deinen Chia-Schleim zu löffeln und am Ende des Monats ein halbes Kilo weniger auf der Waage zu sehen? Was hast Du davon, beim nächsten Stadtlauf früh aufzustehen und vor dem Start vor überfüllten Toiletten anzustehen und dann doch frustriert nach Hause zu gehen, weil Du am Ende zwei Minuten über Deiner Zielzeit lagst?

Wenn Du dabei zu dem Schluss kommen solltest, dass Dein Ziel nach wie vor das Richtige für Dich ist – herzlichen Glückwunsch! Ich drücke die Daumen, dass Du dieses erreichst und ich bin mir sicher, dass Du nun mit dieser Klarheit sehr viel zielstrebiger vorgehen wirst, um dieses Ziel zu erreichen.

Und wenn Du nun zu dem Schluss gekommen bist, dass Dein Ziel nicht mehr zu Dir passt – herzlichen Glückwunsch! Freue Dich über die Erleichterung, die diese Erkenntnis mit sich bringt und über den Raum, den Du nun mit Dingen füllen kannst, die Dir wirklich wichtig sind oder Dich glücklicher und zufriedener machen: zum Beispiel Zeit mit der Familie, mit Freunden, Zeit für ein gutes Buch, Sport, einfach nur zum Ausschlafen oder einem neuen Traum, der Dir all das gibt, was Dein „alter“ Traum Dir nicht zu geben vermocht hat.

Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht auf der Blogseite des Berliner Unternehmens „2PAARSchultern GbR“, dessen Mitbegründerin die Autorin ist.