Mehr Zeit für Dich oder Der Moment des Schweigens

Es gibt diesen einen Moment, in dem in unseren Workshops immer betretenes Schweigen herrscht und die Teilnehmenden teilweise echt schockiert sind: Wenn wir nach der durchschnittlichen Screen-Time der letzten Tage fragen und sie diese auf ihren Handys sehen.

Durchschnittlich 3-4, teilweise 6 Stunden am Tag sind da keine Seltenheit.  

Vorher haben die Teilnehmenden oftmals darüber geklagt, dass sie zwischen beruflichen und privaten Verpflichtungen keinerlei Zeit mehr für sich selbst haben. Wir haben sie gefragt, was sie tun würden, wenn sie 1 Stunde mehr Zeit am Tag hätten. Die Ideen sind toll und z.T. sehr kreativ: von sozialem Engagement, über mehr Sport bis hin zum Töpferkurs haben wir schon Vieles gehört.

Nun mögt Ihr denken: Schön und gut, aber ich benutze mein Handy doch beruflich: halte mich auf den sozialen Medien auf dem Laufenden, schreibe berufliche E-Mails und videofoniere. Unsere Antwort: Okay, dann ziehe bitte die Zeit auf LinkedIn, Outlook/G-Mail und Zoom/Teams ab  – „normale“ Telefonate zählt Dein Handy nicht als Screentime. Das Ergebnis ist immer noch ernüchternd: meist kann nur max. 1 Stunde für Aktivitäten im beruflichen Kontext abgezogen werden, es verbleiben immer noch durchschnittlich 2 bis 3 Stunden „private“ Screentime.

Es regt sich dann bei unseren Teilnehmenden viel Widerstand, da kommen Äußerungen wie: „Aber ich brauche doch auch mal Zeit für mich und beim Surfen kann ich schnell abschalten“  oder : „Wenn ich mich zwischendurch mal runterfahren will, gelingt mir das am Besten auf Instagram oder TikTok“ oder „Nach einem langen Tag will ich nur noch daddeln und nicht mehr nachdenken.“

Gegenfragen: Wie nachhaltig ist das für Euch? Und erholt Ihr Euch dabei wirklich?

Wir wissen mittlerweile, dass unser Gehirn total auf schnelle Belohnungen abfährt: der Kick, den Ihr beim Scrollen durch Instagram erfahrt, ist viel schneller und müheloser zu haben, als die Zufriedenheit nach einem guten Gespräch mit einem Freund oder nach Erledigung einer komplexeren Aufgabe. Aber: die Fähigkeit zur Fokussierung – also sich komplett auf ein Thema konzentrieren zu können und sich nicht ablenken zu lassen – wird mehr und mehr zu einer entscheidenden Kompetenz, um Leistung zu erbringen und schulisch und beruflich erfolgreich zu sein.

Das kennt Ihr selbst auch: wenn Ihr Euch auf eine Aufgabe konzentrieren wollt, z.B einen Report zu schreiben und zwischendurch immer wieder zum Handy greift: Dann fällt es schwer, wieder reinzukommen. Da liegt es auf der Hand, dass das Ganze viel länger dauert, als wenn Ihr konzentriert durcharbeiten würdet. Studien zeigen, dass es tatsächlich 15 Minuten dauert, bis wir wieder das gleiche Konzentrationslevel wie vor einer (!) Unterbrechung erreichen: Nun denkt mal drüber nach, wie oft Ihr durchschnittlich zum Handy greift, wenn Ihr einen Bericht schreiben müsst und wieviel länger das Schreiben dann im Mittel dauert.

Auch der Ruf von Multitasking ist besser, als dieses es verdient hätte:

Wenn zu viele Tabs im Gehirn offen sind, haben wir weniger Konzentration für die Bewältigung der Aufgabe vor unserer Nase – entsprechend dauert das Ganze länger, das ist der sog. „Zeigarnik-Effekt“. Nicht nur, dass dann die Abarbeitung der Aufgaben länger dauert, auch unsere Erinnerung kann dann zum Teil verfälscht sein: In Studien zeigten Teilnehmende Fehlerquoten von 20 bis 30 % und auch Euch mag das schon mal so ergangen sein: Wenn Ihr z.B. im Meeting parallel E-Mails bearbeitet habt und Euch hinterher mit Anderen zu den Inhalten ausgetauscht habt: Vielleicht ist Euch da aufgefallen, dass die anderen Meeting-Teilnehmenden andere Aussagen mitgenommen haben als Ihr, gerade bei Leitungsmeetings ist aber entscheidend, was genau wie gesagt wurde.

Ein Phänomen, welches ebenfalls häufig vorkommt: Die sog. „Bedtime Procrastination“: Nach einem anstrengenden Tag wollt Ihr einfach mal Zeit für Euch haben – entweder setzt Ihr Euch vor den Fernseher/das Tablet und startet Bingewatching oder Ihr lasst Euch von einer Story zur anderen bei Insta leiten – und schwupps ist es Mitternacht. Ihr wollt dann aber nicht schlafen gehen, weil Ihr das Gefühl habt, noch nicht genug „für Euch selbst“ getan zu haben. Ein anderer Grund kann sein, dass Ihr tagsüber viel fremdbestimmt (durch Job, Familie, Ehrenamt etc.) seid und Euch nachts Zeit von Eurem Schlaf abknapst, über die Ihr verfügen könnt. Und so schiebt Ihr das schlafen gehen immer weiter auf – was Euch am nächsten Tag auf die Füße fällt: Ihr steht schon müde auf und seid den ganzen Tag erledigt, unkonzentriert und vielleicht gereizt – klassischer Fall von Boomerang-Effekt.

Auch ich kenne diese Tage – insbesondere aus meiner früheren Konzernkarriere. Mittlerweile schaffe ich es, mir dann am nächsten Tag etwas Zeit zum Nachdenken einzuräumen und zu überlegen, wo dieses Verhalten herkam: meist fehlt mir etwas: Zeit für mich, Zeit für Sport, Zeit mit meiner Familie/meinen Freunden, Anerkennung, ein Friseurbesuch, Lachen etc. und ich wollte mich mit dem Bildschirmkonsum betäuben, um nicht darüber nachdenken zu müssen.

Solche Erkenntnisse tun manchmal weh – aber sie sind auch der Antrieb, um (schlechte) Gewohnheiten ändern zu können. Seid da nicht zu streng mit Euch selbst: Es braucht im Durchschnitt 6 Wochen bis 8 Wochen, um eine Verhaltensänderung herbeizuführen und dauerhaft zu verinnerlichen.   

Das könnt Ihr tun, damit es Euch in den kommenden Tagen schon besser geht:

  1. Wenn Ihr auf der Arbeit seid: verbannt das Handy so oft es geht, in den Nebenraum (oder zumindest außer Reichweite). Ihr könnt ja den Konzentrationsmodus aktivieren, so dass Euch noch Anrufe erreichen, aber keine Benachrichtigungen mehr von Insta & Co.

 

  1. Schaltet auch die Benachrichtigungen von Outlook & Co. aus. Es reicht i.d.R. 2 bis 3 mal täglich in die E-Mails reinzuschauen.

 

  1. Social Media: Hier gilt das Gleiche: versucht, den Konsum auf feste Zeiten zu begrenzen – auch, wenn Ihr beruflich auf LinkedIn unterwegs sein müsst/wollt, reichen oftmals 20-30 Minuten am Tag konzentriertes Lesen, Liken und Kommentieren.

 

  1. „Deep Work“: Benutzt z.B. bei Teams öfter den „Nicht stören“-Modus, um wirklich konzentriert an Themen arbeiten zu können, am Anfang vielleicht ein bis zweimal in der Woche. Reserviert Euch feste Zeitblöcke dafür. Sprecht auch mit Eurem Team darüber, ob Ihr dies nicht für alle übernehmen wollt – konsequent und zu 99 % nicht verhandelbar. Ihr werdet überrascht sein, wie intensiv Ihr ins Arbeiten kommt.

 

  1. Setzt Euch ein Ziel für Eure maximale tägliche Screentime – mind. 1-2 Stunden unter Eurer aktuellen durchschnittlichen Zeit.

 

  1. Wenn Ihr komplett durch seid: Back to the Basics: regelmäßig essen, mind. 7-8 Stunden schlafen, verbringt Zeit mit lieben Menschen und bewegt Euch wenigstens einmal am Tag an der frischen Luft. Auch wenn das Handy in der Situation noch so verlockend erscheint: Ihr seid gerade besonders anfällig und es wird dann noch länger dauern, bis es Euch wieder besser geht.

 

  1. Dennoch: Seid nicht so streng mit Euch selbst – und belohnt Euch für kleine Fortschritte: überlegt, was Ihr Euch Gutes tun könnt, wenn Ihr z.B. 5 Tage am Stück unter Eurer maximalen Screentime geblieben seid , z.B. das Stück Schokokuchen kaufen, welches Euch anlächelt, einen Blumenstrauß kaufen, ein heißes Bad nehmen oder mit einer Freundin treffen. 

 

  1. Langweilt Euch – und haltet es auch aus: Nicht automatisch zum Handy greifen, wenn Ihr auf den Bus oder die S-Bahn wartet. Schaut Euch um, nehmt Menschen, Farben, Gerüche und Geräusche wahr. Atmet durch und freut Euch darüber, was Ihr seht.

 

Versteht mich nicht falsch:

Ja, die beruflichen Anforderungen an uns werden immer höher, wir müssen schneller sein denn je und viele Menschen mit großen privaten Herausforderungen wie Eltern mit kleinen Kindern haben schlichtweg zuwenig Freizeit. Dies ist aber eine Ermutigung, ehrlich mit sich selbst zu sein und zu schauen, was in Eurem eigenen Verhalten Faktoren sein können, die zu dieser Erschöpfung beitragen – und den Leidensdruck etwas zu lindern.

Also:

Seid bitte radikal ehrlich zu Euch selbst – und nutzt die anstehende Vorweihnachtszeit, um aus dem Autopilot-Modus rauszukommen: habt echte Interaktionen mit echten Menschen, geht raus in die Natur (oder auf Weihnachtsmärkte), tut (analog) was für Euch und nehmt alles wieder intensiver wahr!

Wir wünschen Euch schöne Momente und freuen uns, wenn Ihr Eure Erfahrungen mit uns teilen wollt.

 

Nadine

 

Quellen:

Siehe: Digitales Leben: Laptops sind tödlich für die Konzentration (wiwo.de) oder Becker, Scholer und Hughes, 2017: Divergent effects of distance versus velocity disturbances on emotional experiences during goal pursuit, Journal of Applied Psychology, 102, 1109-1123.

CHI_2007_Iqbal_Horvitz.pdf (microsoft.com)

Zeigarnik-Effekt – Wikipedia

Ohio State University 2019, Zusammenfassung: Hate distractions? Good. Your perception of reality is at stake (fastcompany.com)

Bedtime procrastination – Wikipedia

How are habits formed: Modelling habit formation in the real world – Lally – 2010 – European Journal of Social Psychology – Wiley Online Library